Rezension: „Das Buch der Wunder“ (Stefan Beuse)

Es gibt diese Bücher, die ich fast in einem Rutsch lese, und dann doch wochenlang nachdenke, wie man sie nur ansatzweise beschreiben könnte. Diese Bücher stammen aus den unterschiedlichsten Genres und aus verschiedenen Verlagen und doch ist ihnen eines gemein: Sie machen mich sprachlos durch die zauberhafte Sprache, mit der sie mich aus der Realität entführen. Oder anders gesagt – es sind Bücher, die vielleicht auf einer ganz bestimmten Frequenz existieren und mich auf diese Fequenz mitnehmen, wenn auch nur für wenige Stunden.

„Das Buch der Wunder“ ist nicht nur solch ein Buch – es ist auch ein Buch, das von verschiedenen Frequenzen handelt.

Inhalt:

Penny und Tom sind Geschwister, die unterschiedlicher kaum sein können. Tom, der ältere der beiden, ist von den Naturwissenschaften und der wissenschaftlichen Methodik der Erforschung der Welt fasziniert. Er liebt Fakten und vertieft sich gerne in Lexika. Penny ist dagegen verträumt – und doch nicht weniger intelligent. Vielmehr wirkt sie durch ihre verträumte Art – die auf eine andere Art und Weise hinter die Kulissen der Welt zu blicken scheint als die Naturwissenschaften – fast noch ein wenig klüger als Tom, ja, beinahe schon weise. Die Situation in ihrer Familie ändert sich zweimal auf sehr einschneidende Weise, während Penny und Tom dazwischen etwas erleben, das man eigentlich nicht rational erklären kann.

Mein Eindruck:

Obwohl „Das Buch der Wunder“ leicht geschrieben ist, ist es doch keine leichte Kost. „Kindermund tut Wahrheit kund“, sagt man häufig, wenn Kinder – ohne, dass die Eltern dies wollen – etwas ausplaudern oder durch das äußern einer offensichtlichen Beobachtung den Nagel auf den Kopf treffen. In Bezug auf Penny – und auf diese Geschichte – passt das geflügelte Wort jedoch umso mehr, da es die Welt der Erwachsenen komplett durchschaut. Wie eine Art moderner Peter Pan lebt Penny in einer Welt voller Fantasie und kindlicher Vorstellungen und hat die Welt doch besser durchschaut als manch Achtzigjähriger, der auf sein Leben zurückblickt.

Du kannst sie sehen, jeden Morgen. Wie sie zur gleichen Zeit aus ihren Häusern strömen. Wie sie sich an Ampeln stauen und die Straßen fluten, mit gesenktem Blick, als hätte man sie gelöscht und dann ein komplett neues Programm aufgespielt. […] Dein Wert, glauben sie, bemisst sich daran, wie viel du sammelst. Du musst mehr haben als andere. Mehr Werte, mehr Urlaub, mehr Sex.

(S. 115, „Das Buch der Wunder“, 2017)

Die Geschichte ist in ihrer Zusammensetzung eine Parabel auf unser modernes Leben und die Eltern von Tom und Penny geben dabei Auskunft darüber, wohin man sich im Laufe des Lebens entwickeln kann. So ist die Mutter streng gläubig, während der Vater an der Welt zu zerbrechen scheint. Man kann also – so könnte man schlussfolgern – sich entweder mit der Realität abfinden und resignieren (wenn nicht gar an ihr zerbrechen), oder aber die Kraft aus anderen Dingen – hier aus dem Glauben an Gott – ziehen. Die Frage, die sich hier automatisch stellt ist auch im Buch ein Thema: Gibt es noch einen anderen Weg?

Für Penny und Tom ist die Sache irgendwie klar: Man lebt auf einer bestimmten Frequenz. Strengt man sich an, kann man diese Frequenz – mit all ihren Grenzen und einengenden Umständen – verlassen und auf eine andere Frequenz überwechseln. Je länger ich über diesen Gedanken nachgedacht habe, desto sicherer bin ich mir, dass die Frequenzen, über die Tom und Penny sprechen, die Perspektiven auf unsere Welt sind. Wirklich komplett können wir diese Welt nicht verlassen, aber man kann sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten. Ist ein Blickwinkel zu einengend oder zu schmerzhaft, muss man sich eine andere Perspektive, d.h. Frequenz suchen. Dazu passt, dass Toms späteres Leben, nach den einschneidenden Erlebnissen, beinahe „glattgebügelt“ wirkt. Alles ist perfekt, von Tagträumen keine Spur. Er ergreift sogar einen Beruf, der dem Klischee entspricht, eine Scheinwelt zu suggerieren, in der alles perfekt wird: Er geht in die Werbebranche. Und doch ist es genau dieser Beruf, in dem Tom den Betrachtern die Perfektion vorspielt und sie manipuliert, der damit dem Sinnbild des Frequenzwechsels entspricht. Und der letztlich die Tagträume zurück in Toms Leben holt.

Das Spannungsgefüge zwischen Penny und Tom, zwischen den Eltern und ihren Kindern und zwischen den Erlebnissen in der Kindheit und dem, was im Erwachsenenleben daraus wurde ist eines, das mich von der ersten Seite an auf eine wundersame, manchmal melancholische und doch immer hoffnungsvolle Reise genommen hat. Die Geschichte mag im ersten Moment inhaltlich sehr eigenartig wirken, und doch weiß man instinktiv worum es geht. Während man liest, hört man die eigenen imaginären Freunde aus der Kindheit wieder, wird sich der kleinen Wunder im Alltag bewusst und kann selbst im größten Stress durchatmen.

Fazit:

Andere mögen in dieser Geschichte andere Aussagen für sich mitnehmen. Das ist einer der ersten Eindrücke, die man beim Lesen gewinnt: So, wie es verschiedene Frequenzen in dieser Welt geben mag, liest wohl jeder dieses Buch auf eine andere Art und Weise und zieht andere Erkenntnisse für sich daraus. Stefan Beuses poetische, ja, beinahe philosophische Sprache verstärkt das Gefühl, dass dieses Buch für einen ganz persönlich geschrieben wurde. So wirken die Charaktere beinahe greifbar auch wenn sich mir ihr Aussehen meiner Vorstellung völlig entzieht. Penny und Tom sind ein wenig wie „Der kleine Prinz“, der von Planet zu Planet reist und dem Leser – je nachdem, wann und wo man mit ihm auf Reisen geht – immer neue Dinge beibringt. Und ist das nicht das Wunderbare an Büchern?

5 von 5 Sternen.

Mehr zum Buch:*

  • Preis: 18 €
  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • Verlag: mairisch Verlag (1. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3938539445
  • ISBN-13: 978-3938539446

 

6 Gedanken zu “Rezension: „Das Buch der Wunder“ (Stefan Beuse)

    • Hallo Daniela,

      wow, Du hast eine Warteschlange? Das ist ja mal eine super Idee!

      Und danke – nun werde ich rot! Es freut mich, dass Dir die Rezension gefallen hat. Bis bald im litnetzwerk!
      LG
      Sarah

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  1. Eine wirklich tolle Rezension!! Ich komme auch vom #litnetzwerk und freue mich wirklich diesen Blog entdeckt zu haben. Ich finde es super, dass du nicht nur diese Mainstream-Bücher vorstellst, sondern, dass man bei dir wirkliche Schätze entdecken kann ❤ !
    Alles Liebe
    -Felia

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  2. Liebe Sarah

    vielen Dank für diese wirklich schönen und ausführlichen Gedanken zu dem Buch. Ich hatte schon geliebäugelt damit, war mir bisher aber unsicher. Nun bin ich doch sehr neugierig geworden und möchte mir selbst ein Bild machen. Ich werde mir das Buch nun doch kaufen.

    Liebe Grüße und noch ein schönes Pfingstwochenende wünsche ich dir!
    Alexandra

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