Rezension: „Lieber Daddy Long Legs“ (Jean Webster)

Lieber Daddy Long Legs,

was für wunderbare Briefe!

Eine Waise, die aufgrund ihrer literarischen Begabung ein Stipendium von einem geheimnisvollen Wohltäter erhält und diesem im Gegenzug Briefe über ihre Fortschritte schreiben muss. Meine Mutter kannte diese Geschichte in Briefform bereits, denn es ist nicht das erste Mal, dass die Briefe als Buch veröffentlicht werden. Sie gelten als moderner Klassiker und meine Mutter legte mir die Geschichte wärmstens ans Herz. Ich bin froh, dass ich ihrer Empfehlung gefolgt bin, ist die Geschichte hinter den Briefen doch einfach nur zum Träumen schön.

Danke für Briefe, die mich haben Träumen lassen.

S.

PS: Vielen Dank an den Carlsen Verlag, der mir das Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

(Ist es nicht ein tolles Cover? Foto: S. Schückel)

Inhalt:

Es ist die Geschichte von Judy Abbott, deren Leben im Waisenhaus keineswegs leicht war und die sich plötzlich in der ungewöhnlichen Situation wiederfindet, dass ein Gönner des Waisenhauses ihr ein Stipendium fürs College ermöglicht, um ihr literarisches Talent zu fördern. Urplötzlich muss Judy sich in einer Welt voller gebildeter junger Damen zurechtfinden, der sie sich eigentlich nicht zugehörig – ja beinahe unwürdig fühlt. All ihre Erlebnisse schreibt sie in regelmäßigen Briefen an „Daddy Long Legs“ nieder, von dem sie nur einmal den Schatten gesehen hat und dadurch weiß, dass er lange Arme und Beine hat – ähnlich einem Weberknecht, die im Englischen auch „Daddy Long Legs“ genannt werden. Eigentlich soll Judy ihren Gönner „Mr. Smith“ nennen. Doch Judy ist ein Freigeist, der sich nur ungerne an das hält, was ihr gesagt wird. Und so schreibt sie frei von der Leber weg was sie denkt – von den anderen Mädchen, von neuen Freundschaften und Jervos Pendleton und auch von Daddy Long Legs selbst, wenn dieser ihr Dinge vorgibt, die Judy so gar nicht passen.

„Lieber Daddy Long Legs“ ist bereits 1912 erstmals erschienen und wurde nun im Königskinder Verlag neu übersetzt.

Mein Eindruck:

Briefromane lesen sich für mich immer vergleichsweise schnell – in diesem Fall beinahe zu schnell, denn man möchte eigentlich nicht mehr aus den Zeilen auftauchen. Vom ersten Brief an hat schließt man Judy ins Herz, denn obwohl ihr gerade das große – durchaus respeckteinflößende – Geschenk gemacht wurde, dass jemand für ihre Ausbildung bezahlt, zeigt sie sich zwar erstaunt aber nicht eingeschüchtert. Sie gibt ihrem mysteriösen Stipendiengeber einen wahrlich nicht gerade schmeichelhaften Namen und auch in den späteren Briefen kommt ihre eigensinnige Art mehr und mehr durch. Vor allem dann, wenn besagter Stipendiengeber ihr Wünsche verwehrt und ihr beispielsweise vorschreibt, wohin sie in den Ferien zu fahren hat. Sie ist zwar dankbar für die Möglichkeiten, die Daddy Long Legs ihr eröffnet, straft ihn durchaus aber mit schweigen oder betont unpersönlichen Briefen, wenn sie sich seinen Vorgaben fügen muss.

An diesem Punkt hatte ich während des Lesens zunächst gedacht, dass dieses Sich-fügen ja typisch für ein Buch sei, dass 1912 erschienen ist und ich befürchtete, dass – so schön die Geschichte auch erzählt wird – die Eigenständigkeit von Frauenfiguren wieder einmal zu kurz kommen würde. Ohne zu viel zu verraten, möchte ich an dieser Stelle nur sagen, dass Judy durchaus für Überraschungen gut ist und Daddy Long Legs sich warm anziehen muss, denn seine Stipendiatin hat definitiv Temperament. Und sie besitzt literarisches Talent, weshalb Bücher und ihre eigenen schriftstellerischen Versuche immer wieder in den Briefen angesprochen werden. Sie macht damit ganz beiläufig auch neugierig auf die tatsächlich existierenden literarischen Werke, die sie in ihren Briefen erwähnt und man möchte eigentlich auch die Geschichten lesen, die Judy selbst schreibt.

Wissen Sie, Daddy, ich finde Vorstellungskraft die wichtigste menschliche Eigenschaft. Sie befähigt Menschen, sich in andere hineinzuversetzen. Sie macht sie freundlich und mitfühlend und verständnisvoll.

(Leseexemplar „Lieber Daddy Long Legs“ von Jean Webster, S. 131)

Judys Briefe sind voller Witz und jugendlichem Eifer, aber auch voller kluger Gedanken, die nachdenklich stimmen und noch lange nachhallen. Nach und nach baut sie mit ihren Briefen die neue Welt, in der sie lebt, vor dem inneren Auge des Lesers auf und obwohl die Nebenfiguren – ihre Freundinnen und andere wiederkehrende Personen – nie selbst zu Wort kommen, werden sie greifbar und wirken realistisch. Beim Lesen vergisst man beinahe absichtlich, dass es sich hier nicht um eine wahre Geschichte und echte Briefe handelt, aber zumindest ich habe mir gewünscht, es wäre so. Das Buch lädt definitiv zum Träumen ein.

Die Welt ist voller Glück, reichlich genug für alle, wenn man nur bereit ist, das zu nehmen, was einem vor die Füße fällt. Flexibel zu sein ist das ganze Geheimnis.

(Leseexemplar „Lieber Daddy Long Legs“ von Jean Webster, S. 160)

Fazit:

„Lieber Daddy Long Legs“ von Jean Webster ist nicht umsonst ein moderner Klassiker: Die Geschichte von Judy und ihrem Daddy Long Legs ist in jeglicher Hinsicht zeitlos. Die amüsanten Briefe – die übrigens immer nur von Judy ausgehen – sind voller kluger Gedanken über das Leben, was man braucht um glücklich zu sein und über die Literatur. Es ist auch eine Liebesgeschichte, die dabei aber nie ins Kitschige abrutscht. Ich kenne die früheren Übersetzungen des Romans – und auch das Original – nicht, muss aber sagen, dass diese Übersetzung auch mit den wunderbaren Zeichnungen von Judy sehr gelungen ist.

5 von 5 Sternen.

Mehr zum Buch:*

  • Preis: 18,99 €
  • Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
  • Verlag: Königskinder (29. September 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3551560447
  • ISBN-13: 978-3551560445

Outtakes:

Da ich selten Liebesromane lese, rezensiere ich sie auch dementsprechend selten. Folgende Formulierungen hat mein innerer – sehr rationaler – Lektor (eine Mischung aus Sherlock, Spock und Sheldon) unter anderem (es gab noch kitschigere) gestrichen:

Ein Buch zum Weinen schön und zeitlos geschrieben, wie die Liebe selbst

So schön, dass man selbst solche Briefe schreiben können möchte

Dieses Buch und eine heiße Tasse Tee während draußen ein Herbststurm tobt – mehr braucht man nicht, um einen perfekten Lesetag zu haben.

 

12 Gedanken zu “Rezension: „Lieber Daddy Long Legs“ (Jean Webster)

  1. Liebe Sarah,
    Dieses Buch ist mir jetzt schon mehrmals über den Weg gelaufen. Deine schöne Rezension hat mir jetzt richtig Lust auf die Lektüre gemacht. Ich lese eh gerne Briefromane und habe das viel zu lange nicht gemacht. Und das Cover ist auch noch so schön. Ich glaube, dass Buch muss bei mir einziehen. 🙂
    Danke für die tolle Buchbesprechung. Die Idee mit den Outtakes finde ich übrigens richtig gut!
    Ganz liebe Grüße, Julia

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    • Liebe Julia,

      ich hoffe, das Buch gefällt Dir dann genauso gut wie mir, aber ich bin da sehr optimistisch 🙂 Schade, dass die Königskinder nicht mehr lange als Verlag da sein werden – so toll gestaltete und auch inhaltlich wunderschöne Bücher braucht es mehr auf dem Markt…

      Danke, dass Du vorbei geschaut hast!

      Liebe Grüße
      Sarah

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